Wie ein Turnverein das Dorfleben prägt
Der TUS Sillenstede feierte im Jahr 2015 sein 150-jähriges Jubiläum. Doris Wolken und Hinrich Neumann vom Chronikkreis Sillenstede haben die bewegte Geschichte nachgezeichnet, die von zahlreichen Anekdoten geprägt ist.
„Der Männer-Turnverein hat zum Zweck, durch gemeinsames Wirken seiner Mitglieder zur allgemeinen Verbreitung und richtigen Würdigung des Turnens nach Kräften beizutragen und durch praktisches Turnen Geist und Körper auszubilden“: So heißt es in Paragraph 1 der Satzung, die sich der neu gegründete „Männer-Turnverein (MTV) zu Jever“ im Jahr 1862 gab. Und genau die gleichen Ziele dürfte auch der MTV Sillenstede gehabt haben, der sich als zweiter Ort im Jeverlande kurz danach im Jahr 1864 gründete. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u.a. der Rechnungssteller Anton Tiemens sowie die Landwirte Johann August Siebelts Blohm und Johann Folkers Janßen.
Wie es sich für einen richtigen Turnverein gehört, ließen sich die Sillensteder bei dem hiesigen Maler Johann Nannen Popken eine Fahne malen, die neben den Sillensteder Wappentieren, zwei Putaalen (plattdeutsch für Aalquappe oder kleine Aale) auch das offizielle Gründungsdatum 1865 trug.
Doch anders als heute fand zur damaligen Zeit der Sport nicht isoliert in einer Turnhalle statt, sondern in einer geräumigen Scheune. Das erste Vereinslokal war der neben der Kirche gelegene Gasthof „Schwarzer Adler“ von Gastwirt Dude Iken Frerichs.
Aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges und des ersten Weltkriegs liegen nur wenig Aufzeichnungen vor, das turnerische Leben dürfte in der Zeit in Sillenstede jedoch kurzzeitig zum Erliegen gekommen sein. Denn einige der Turner mussten auch ins Feld ziehen und kehrten nicht mehr zurück.
Wiederbelebung nach dem 1. Weltkrieg
Aus alten Chroniken ist bekannt, dass der Verein am 15. Februar 1920 neu gegründet wurde. Nach dem 1. Weltkrieg waren Ruhe und Ordnung im Ort gefährdet, die Bürgerwehr ging Streife. Die Jugend sollte von der Straße und brauchte Aufgaben, an der sie sich begeistern konnte. Dieses Mal waren es nicht Bauern, sondern der Pastor Carl Woebcken und der Lehrer W. Hammie, die rund 30 überwiegend jüngere Mitmenschen zum Turnen motivieren konnten. Gesellschaftlich war das nicht unbedeutend: Zu den Turnern zu gehören, war Ehrensache. Schließlich trafen sich ohne Standesunterschied Handwerker, Kaufleute, Bauern und Arbeiter, um ihrem gemeinsamen Hobby nachzugehen. Die nötigen Turngeräte bauten die Sillensteder selbst und verkauften dafür „Anteilsscheine“. Damit konnten die Bürger Anteile an den Geräten erwerben. In kurzer Zeit kamen so 1800 Mark zusammen. Schmiedemeister Karl Graalmann baute beispielsweise ein Hochreck. Er selbst war zudem nicht nur Turnwart, sondern auch langjähriger Vorturner.
Der 16. Januar 1921 gilt als weiteres wichtiges Datum des MTV Sillenstede. An dem Tag fand im Jünnemannschen Saal gegenüber der Kirche (dem späteren „Büsingscher Saal“ und heutigen „Sillensteder Hof“) ein Schauturnen statt. Der Wilhelmshavener Turnverein „Einigkeit“ überreichte an dem Tag feierlich die alte Sillensteder Turnfahne. Diese war seit dem Krieg 1870/71 verschollen. Mitgliedern des Vereins „Einigkeit“ hatten sie erst 1908 bei einer Turnerfahrt auf einem „Rümpelboden“ wiederentdeckt und seitdem verwahrt. Bis zum 100-jährigen Jubiläum im Jahr 1965 blieb sie erhalten. Seit dem ist sie jedoch verschollen, sodass in der Zeit eine neue Fahne nach altem Vorbild angefertigt wurde. Einziger Unterschied: Während es auf der alten Fahne „All Heil“ hieß, lautete der Text auf der neuen Fahne „Gut Heil“.
Konkurrenz durch andere Vereine
Aber der noch junge Turnverein bekam schon bald Konkurrenz. Denn der Sillensteder Reit- und Fahrverein gründete sich und bescherte dem MTV einen ziemlichen Mitgliederschwund. Auffangen konnte die Sillensteder das aber mit einer neuen Damenriege, die sowohl am Turngerät als auch im Volkstanz große Leistungen zeigte.
In der Zeit nach dem 1. Weltkrieg turnten die Sportler zunächst im Saal von Gastwirt Jünnemann. Wie der ehemaliger Mitturner Johann Gembler berichtete, zerstritten sich die Turner aber mit dem Gastwirt. Daraufhin turnten sie in der Scheune des Landwirts Tjaden in der Sögestraße. Trainiert wurde jeweils montags und donnerstags von 20 bis 22 Uhr. Die Sportler traten dabei jedes Mal der Größe nach an und wurden in drei Riegen mit je 5 bis 7 Mann eingeteilt. Dann folgte das Aufwärmtraining, u.a. auf Kokosmatten. Geturnt wurde dann in drei Riegen an Reck, Barren und Pferd. Weil die Scheune bei Bauer Tjaden dunkel war, hängten die Sportler rechts und links am Reck zwei Petroleumlampen auf.
Die schweren Geräte mussten dazu jedes Mal in den Saal transportiert werden. Das geschah auch zu den jährlichen Stiftungsfesten am 1. Dezember-Sonnabend, die immer mit zweistündigen Vorführungen an Reck, Barren und Pferd von der Männer- und Frauenriege sowie Freiübungen und Volkstänzen begannen. Beim Stiftungsfest 1927 brachte noch ein Schmankerl: Als zusätzliche Attraktion gab es einen Ringkampf zwischen dem Landwirt Franzen aus Sillenstede und einem Sportler aus Wilhelmshaven. Franzen legte den zehn Kilogramm schwereren Gegner innerhalb von 3 Minuten auf die Schulter und bekam reichlich Beifall!
Im Sommer dagegen gab es auf dem Brunnenfeld in Grafschaft jeweils sonntags von 14 bis 17 Uhr Trainingsstunden für Leichtathletik und Schleuderball.
Verbandsturnfest auf der Rennbahn
Am 24. und 25. Juni 1928 organisierte der MTV Sillenstede erstmals ein Verbandsturnfest, das auf dem Rennplatz „Cornelsens Feld“ in Stummeldorf stattfand. Damit dort nicht nur geturnt, sondern auch leichtathletische Wettkämpfe durchgeführt werden konnten, musste der „Rennplatz“ erst einmal zeitaufwändig hergerichtet werden: Die Helfer füllten Abzugsrinnen auf an den Stellen, wo die Laufbahn verlief und beseitigten Kuhfladen. Anschließend bauten sie eine Tribüne für die Vorturner und banden Siegerkränze aus Eichenlaub selbst. Erstmals spielten die Sillensteder bei dem Fest auch Feldhandball.
Im Jahr 1930 übernahm Heinrich Büsing das Vereinslokal (den heutigen „Sillensteder Hof“), den er bis zum Jahr 1968 führte. Er war nicht nur langjähriger Vorsitzender, sondern bis in die siebziger Jahre auch Vorturner, u.a. für die Kinder aus dem Umland. Später setzte er sich auch für den Bau der Turnhalle in Sillenstede ein.
Schauturnen als Werbeveranstaltung
In der Folgezeit sorgte der zweite Weltkrieg dafür, dass der Turnbetrieb erneut eingestellt wurde. Später sorgte wieder Pastor Woebcken für ein Aufleben der Aktivitäten. Dabei ließ er den TUS Östringen im Büsings großem Saal ein Schauturnen veranstalten. Hinterher soll er gefordert haben: „Das müssen wir auch haben!“
Die örtliche Besatzungsbehörde genehmigte die Wiedergründung unter dem Namen „Turn- und Sportverein“, den der TUS Sillenstede bis heute beibehalten hat. Bei der Gründung hatte der TUS gleich 50 Mitglieder. Die alten Turngeräte, die während des Krieges eingelagert waren, ließen sich wieder verwenden. Gleichzeitig erweiterten die Sportler ihr Angebot: Neben Geräteturnen der Männer und Frauen betrieben die Mitglieder Leichtathletik, Faustball und Fußball. Auch die neue Kinderabteilung wuchs schnell.
Da nach dem Krieg Schusswaffen zunächst verboten waren, gab es auch kein Schützenfest im eigentlichen Sinn. Die Sillensteder verfielen dabei auf eine andere Idee: Stattdessen ermittelten sie den Jugendschützenkönig in den Jahren 1946 und 1947 in einem Leichtathletik-Wettkampf auf der „Hengstwiese“. Die Bewerber mussten dazu Weitsprung, Schlagballweitwurf und 75 m-Lauf absolvieren.
Sportplatz in Eigenleistung
Die neuen Sportarten wie Fußball, Faust- und Schleuderball, Boßeln und Klootschießen wurden immer beliebter, während die Turnerriege immer weniger Zulauf erhielt. In Eigenregie erstellten die Bürger eine eigene Sportplatzanlage an der Jeverschen Straße, wo sie heute noch seinen Platz hat. Das Gelände pachtete der Verein zunächst vom Wasserwerk, später übernahmen die Gemeinde Sillenstede in Pacht in Höhe von sechs Zentnern Kunstdünger im Jahr! Sie stelle das Gelände dem TUS kostenlos zur Verfügung.
Die Sportler und Schüler haben den heutigen Sportplatz in 1500 freiwilligen Stunden selbst hergerichtet und dabei 800 m3 Erde bewegt. Hierfür wurde kurzerhand der Schulsportunterricht umgestaltet, die Kinder mussten Erde abtragen und den Platz einebnen. Dabei haben die Helfer auch eine Laufbahn und Sprunggruben erstellt. Das Jeversche Wochenblatt unterstützte die Aktion mit einem Aufruf im Jahr 1950 „Helft der Jugend“!
Beim Verbandsturnfest am 15. und 16. September 1951 wurde der Platz offiziell eingeweiht.
Es gab Wettkämpfe wie 100 m-Lauf, 3000 m-Lauf, Kugelstoßen, Weitsprung, Hochsprung und Schleuderballwerfen. Bis dato hatte man z.B. 100 m-Läufe auf Feldwegen trainiert. Auch bestritt die neue Fußballabteilung ihr erstes Spiel gegen eine Mannschaft aus Hohenkirchen. Es gab damals jedoch keine Mannschaftswettbewerbe wie heute, sondern lediglich Freundschaftsspiele.
Handballer trainieren im Saal
Im Jubiläumsjahr 1965 feierte der TUS sein 100jähriges Bestehen mit einer ganzen Festwoche. Den Beginn machte ein Turnerkommers, bei dem örtliche Vereine mitwirkten. Auch gab es ein Schauturnen der Gauriege (Männer und Frauen) am Barren und am Reck. In den folgenden Tagen schlossen sich Fußballspiele, Turnen der Mädchengruppe (Bodenturnen, Gymnastik, Schwebebalken und Kasten), Tischtennis-Wettbewerbe, Pokalschießen der Vereine sowie Sportwettkämpfe der Schulen Glarum und Sillenstede an mit Tauziehen, Eierlaufen, Ballstaffel, Völkerball, Hindernislauf, Schlagball, Schleuderball, Fußball und Korbball. Den Abschluss machte am Samstag, den 11. September ein festlicher Abschlussball.
Im Jahr 1965 gründete Fritz Hinrichs die Handballabteilung, auch wenn der Vereinsvorstand das Ansinnen für unmöglich hielt. Mit 12 Jugendlichen startete Hinrichs in die erste Saison. Sie trainierten auch in Büsings Saal, mussten aber Matten vor die Bühne stellen, da ansonsten die Bälle durch die dahinterliegenden Fenster flogen. Ganz verhindern konnten sie zerbrochene Fensterscheiben nicht, daher wurden die Handballer aus dem Saal verbannt. Stattdessen trainierten sie in einer alten Halle des ehemaligen Pionierparks (Pipak).
Allerdings wurde die Entwicklung der Ballspiele durch die fehlende Sporthalle gehemmt, der Büsingsche Saal war hierfür kaum noch geeignet. Zudem kostete die Saalmiete jährlich 1100 DM. Im Jahr 1976 genehmigte die Gemeinde Schortens, zu der Sillenstede seit der Gebietsreform 1972 gehörte, den Bau der einer Turnhalle in Glarum. Denn die Schülerzahl war zu der Zeit in Glarum höher als in Sillenstede. Die Sillensteder erhielten Trainingszeiten für Turnen und Tischtennis, sodass sich die junge Tischtennisabteilung des TUS auch schnell entwickeln konnte. Allerdings verschuldete sich der TUS auch stark, da er die Fahrtkosten von Sillenstede nach Grafschaft übernahm.
Im Jahr 1978 wurde die neu erstellte Sportanlage an der Jeverschen Straße eingeweiht. Neben zwei Rasenplätzen ist auch ein festes Umkleidegebäude mit Sanitäreinrichtung dazugekommen.
Endlich eine eigene Halle!
Am 11. Dezember 1981 dann erhielt Sillenstede die seit vielen Jahren geforderte eigene Sporthalle. Wie in anderen Vereinen auch stieg damit die Mitgliederzahl schnell an, allein im Jahr 1982 gab es 115 neue Mitglieder. Auch verbesserte sich die Finanzlage, da die Fahrtkosten nach Grafschaft entfielen. Wie stark der Verein aufblühte, lässt sich allein an der Tischtennisabteilung ablesen, die 15 neue Platten anschaffte.
Nach 26.500 freiwilligen Arbeitsstunden wurde im August 1983 der B-Platz der Fußballanlage eingeweiht. Hierzu hatten auch örtliche Unternehmer und Landwirte mitgeholfen, die u.a. mit ihren Maschinen die Drainage des Platzes gelegt hatten.
Die Mitgliederzahl des Vereins hielt an: 1985 gab es schon 785 Mitglieder. Mit mehr Umkleideräumen, einer Hallentrennwand und einer Flutlichtanlage auf dem Sportplatz reagierte der TUS auf den Zulauf, um mehr Trainingsstunden anbieten zu können.
Stand heute
Der TUS Sillenstede auch heute der größte Verein in der Dorfgemeinschaft. Bei der Mitgliederzahl gab es starke Schwankungen: Im Jahr 2006 erreichte der Verein den bisherigen Höhepunkt mit 1200 Mitgliedern, rutschte danach aber ab auf 600 im Jahr 2014. Mittlerweile ist die Tendenz wieder positiv, im Jahr 2015 sind etwa 700 Sportler dabei. Der TUS bietet heute verschiedene Sportarten dauerhaft an, sowohl die traditionellen Sportarten wie Fußball, Handball, Volleyball, Tischtennis und Turnen vertreten, sowie eine Fahrradgruppe und auch Gesundheitsangebote. Hierzu gehören Sportgruppen wie Gymnastik für Wirbelsäulengeschädigte. Einen großen Rahmen nimmt im Verein der Kinder- und Jugendsportbetrieb ein. Mehr als die Hälfte der Mitglieder sind Jugendliche.